40 Jahre Einstürzende Neubauten

40 Jahre Einstürzende Neubauten

Nominiert als Bestes Experiment 2020

Im West-Berlin der 80er Jahre empfanden viele junge und kreative Menschen den Ausnahmezustand als Normalität, in dem deshalb auch Alles möglich schien.

Als Blixa Bargeld gefragt wird, ob er am 1. April 1980 im Moon Club spielen will, erfindet er die Band EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN, sagt zu und ruft dann ein paar Freunde an: die Erstbesetzung der Band besteht aus denen, die an dem Abend gerade Zeit haben. Dieses Konzert gilt als offizielle Geburtsstunde der Band EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN. Dass diese auch nach vier Dekaden noch höchst produktiv sein wird, hätte damals -definitiv- niemand zu prognostizieren vermocht.

Eine ab April 2020 stattfindende weltweite „YEAR OF THE RAT“ -Tour bekundet, dass die Band EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN auch nach 40 Jahren intensivster Musikekstase immer noch höchst agil unter den Lebenden weilt. Warum das nicht selbstverständlich ist, zeigt folgender Abriss des bewegten Lebens einer bewegenden Band.

Mit der Veröffentlichung ihres Debütalbums „Kollaps“ im November 1981 sagten EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN sämtlichen konventionellen Hörgewohnheiten den Kampf an. Das Album ist eigentlich eine „unhörbare“ Platte, es ist ein Frontalangriff auf die vom Mainstream abgestumpften Hörgewohnheiten. Das Instrumentarium besteht mangels finanzieller Möglichkeiten, aus „gefundenen“ und selbstgebauten Objekten u.a. aus Stahlblechen, gemischt mit einer professionellen Studiotechnik, die konsequent gegen ihre eigentliche technische Bestimmung eingesetzt wird. Genau diese nonkonformistische Mixtur soll der Grundstein eines völlig neuen Musikverständnisses werden, das später zahllose Künstler beeinflussen und die nachfolgenden Alben zu Meilensteinen der Industrial-Szene hochstilisieren wird.

Das Konstrukt EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN wird mittels seiner bahnbrechenden Mischung zu einer der wenigen deutschen Bands, die international echte Impulse aussendet und auf zahlreiche andere Bands und Kunstgenres bis heute inspirierend wirkt. Anfangs noch von den Medien als bizarre Mauerstadt-Kuriosität belächelt, etabliert sich die Band schon bald zur international gefragten Größe der Gegenwarts und Pop-Kultur. Sie prägen eine ganze Generation und dienen auch heute noch als oft kopierte Blaupausen experimenteller Klangkunst und -performance.

Bedingt durch ihre originäre und radikale Neudefinition von dem Begriff „Musik“ gehen EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN oft ungewöhnliche und richtungsweisende Kooperationen ein, sammeln weit reichende Erfahrungen mit vom Feuilleton euphorisch angenommenen Theater-Projekten mit renommierten Regisseuren und Dramaturgen wie Peter Zadek, Heiner Müller oder Leander Haussmann und erhalten Einladungen zu weltweit beachteten Kultur-Events wie der Documenta 7, der Biennale Paris und der EXPO in Vancouver.

Einen eindrucksvollen Höhepunkt in der ebenso wechselvollen wie beispiellosen Geschichte der EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN markiert der symbolträchtige Auftritt am 4. November 2004 im mittlerweile abgerissenen Berliner „Palast der Republik“, dem ehemaligen Sitz des Machtapparates der untergegangenen DDR. Das dabei aufgenommene eindrucksvolle Livematerial hat als Zeitzeugnis einer untergegangenen Epoche inzwischen einen dokumentarischen Wert.

In 2014 entsteht im Auftrag der Region Flandern “LAMENT“, ein eigens komponiertes, musikalisches Werk zur Erinnerung an den Ausbruch des ersten Weltkrieges, das als Album veröffentlicht und am 8. November 2014 in Diksmuide, Belgien, dem 100. Jahrestag des Ausbruchs, mit einer speziell konzipierten Performance uraufgeführt wird. Sowohl Album als auch Live-Performance werden weltweit mit überwältigender Resonanz aufgenommen und enthusiastisch als Meisterwerk gefeiert. Seit dem selben Jahr wird der Band durch eine vom Goethe-Institut veranstaltete, weltweit tourende Wander-Ausstellung über die deutsche Kunst der 80er Jahre eine verdiente Anerkennung zuteil. Ein Teil dieser Ausstellung ist EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN gewidmet.

Ende 2016 erscheint das erste, heiß ersehnte „Greatest Hits“ – Album der Band, ein sorgfältig ausgewählter, sehr gelungener und hörenswerter Querschnitt durch 35 Jahre Band-Oeuvre. Alle Stücke wurden neu gemastered und teilweise neu abgemischt. Der Titel „Greatest Hits“ ist natürlich mit einem ironischen Augenzwinkern zu verstehen.

Immer ihrer Zeit voraus, entwickelt die Band zur Jahrtausendwende mit Hilfe von Erin Zhu Bargeld eine Internet-basierte, von jeglicher Musikindustrie unabhängige Produktionsplattform, das sogenannte „Supporter“-Projekt das ihnen in den Jahren 2001 bis 2008 einen enormen Output an Veröffentlichungen ermöglicht und sie damit zu den Erfindern des heute allgegenwärtigen „Crowdfunding“ macht. Das „Supporter“-Projekt wird in 2019 wieder aufgenommen und höchst erfolgreich weitergeführt, um das aktuelle Album „Alles in Allem“ erneut vollkommen unabhängig von der Musikindustrie zu produzieren und der Band ein Arbeiten in völliger Konzentration auf den kreativen Prozess zu ermöglichen und dabei ihre „Supporter“ aktiv daran teilhaben zu lassen.

„Alles in Allem“ das neue Studioalbum erscheint im Mai 2020 und markiert sowohl ein beeindruckendes Band-Jubiläum als auch einen aktuellen Höhepunkt des Schaffens dieser ebenso einzigartigen wie ungewöhnlichen Band, gefolgt von einer ausgedehnten Tournee, auf der die Band das Album live präsentiert.

Damit treten EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN noch einmal mehr den Beweis für die nachhaltige Wirksamkeit ihrer philo-akustischen Langzeittherapie an: Die einstige Berliner Mauerkrankheit haben Blixa Bargeld, Alexander Hacke, N.U. Unruh, Rudolf Moser und Jochen Arbeit vollends besiegt und die apokalyptischen Visionen und Todessehnsüchte früherer Tage gehören schon längst der Vergangenheit an. Den nimmermüden Entdeckergeist indes treibt noch immer das gleiche, heiß lodernde Verlangen an: EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN forschen weiter auf ihrer ewigen Suche nach dem noch unentdeckten Geräusch.

Foto: Mote Sinabel