Ilgen-Nur mit "Power Nap"

Ilgen-Nur mit "Power Nap"

Nominiert als Bestes Album 2020

Ilgen-Nur ist innerhalb der deutschen Musiklandschaft eine absolute Ausnahmeerscheinung: Am 30. August erscheint mit „Power Nap“ das Debütalbum der Slackerqueen auf ihrem eigenen Label mit dem Namen „Power Nap Records“.

Gerade einmal ein bisschen mehr als zwei Jahre ist es her, dass Ilgen-Nur zum ersten Mal auf der Bühne stand. Betrachtet man das überbordende Talent der 23-Jährigen Wahlhamburgerin, so ist es ein mittelschweres Wunder, dass das nicht früher passiert ist. Es hat – wie so vieles, das nicht gut ist – mit den Strukturen des Musikbetriebes und der Subkultur zu tun, wo leider immer noch viel zu oft gilt: Der beste Platz für Frauen ist vor der Bühne. Nicht darauf. „Hätten mir nicht mit 12, 13 irgendwelche dummen Jungs das Gefühl gegeben, dass ich nichts auf dem Kasten habe, hätte ich schon vor vier, fünf Jahren, mit 18, mit 19, was rausgehauen. Ich habe so lange gebraucht, mein Selbstbewusstsein wieder aufzubauen.“

Und Selbstbewusstsein ist das Letzte, an dem es ihr mangeln sollte: Schließlich ist Ilgen-Nur Borali eine herausragende Songwriterin, Sängerin und Gitarristin. Schon auf ihrer ersten EP "No Emotions", die im Frühjahr 2017 auf Kassette (via Sunny Tapes) erschien, konnte man das hören: Songs wie „17“ und „Cool“ sind beiläufige, lässig dahergespielte Indiehits mit Unmengen an Ohrwurmpotential, die unaufgeregt Alltags- und Adoleszenzbeobachtungen aneinander reihen und deutlich werden ließen: Hier macht eine junge Künstlerin ihre ersten Schritte, von der noch einiges zu erwarten ist.

Die Dinge geraten ins Rollen: Tocotronic fragen, ob Ilgen-Nur sie nicht supporten wolle, europäische Tastemaker-Festivals wie das The Great Escape in Brighton, das Eurosonic oder das Spot-Festival in Dänemark schicken Einladungen nach Hamburg. Zusammen mit ihrem Homie Drangsal covert Ilgen-Nur die No Angels und „17“ wird für die Netflix-Serie „How to Sell Drugs online (fast)“ gepickt. Die ersten eigenen Konzerte in Hamburg und Berlin sind lange im Voraus ausverkauft.

Ilgen-Nur ist in der der schwäbischen Provinz aufgewachsen. Ihre Geschichte ist die eines Ausbruchs: Raus aus Wendlingen. Raus aus dem Schwarzwald, wo sie zum Studieren hingezogen war. Erstmal nach Hamburg, wo sie ihre ersten Schritte als Künstlerin macht – und an die Musikszene der Stadt andockt. Und ihre Reise ist noch lange nicht vorbei: Gerade zieht es Ilgen-Nur nach Berlin. Weil die Welt dort eben noch ein bisschen weiter ist. Und ihre Freunde sowieso längst alle dort wohnen.

„Power Nap“ wurde – wie auch „No Emotions“ schon – von die-Nerven-Gitarrist Max Rieger aufgenommen und produziert: Die Gitarren sind dieses Mal ein bisschen fetter, die Arrangements ein bisschen ausgefeilter – aber alles in allem ist auch auf „Power Nap“ lässig zurückgelehnter Indierock mit 90er-Slacker Anleihen zu hören, der den internationalen Vergleich mit Künstlerinnen wie Snail Mail oder Courtney Barnett nicht scheuen muss.

Der Opener „In My Head“ ist ein vom Fernweh getriebener Rocksong, der von Lethargie handelt und dem Ausbruch daraus, davon, gerne alleine zu sein und sich trotzdem darüber zu freuen, wenn jemand vorbei kommt, um sich die Stadt zeigen zu lassen: „I spend my days / in my head / re-living moments / that i tend to forget“. Paul Pötsch (Sänger und Gitarrist der Hamburger Diskursrocker Trümmer) spielt eine souverän-melodische Gitarre, Bassist Laurens Bauer (u.A. bei Erregung Öffentlicher Erregung) und Drummer Simon Starz liefern das rhythmische Fundament dazu.

„Nothing Surprises Me“ verbindet einen treibenden Beat mit einem melancholischen Text: Er handelt von zerbrechenden Beziehungen und davon, trotzdem dazu gezwungen zu sein, stundenlang aus dem Tourbusfenster zu schauen. „Als ich für das Artwork alle Texte in ein Dokument geschrieben habe, habe ich danach die Wortsuche drüber laufen lassen: Es sind etwa 1500 Wörter auf dem Album. Das Wort ,I´ habe ich allerdings ungefähr 300 Mal benutzt. Aber was soll ich machen? Es dreht sich eben um mein Leben.“

„Power Nap“ kann vieles und ist doch stringent: Es wird zusammengehalten von Ilgen-Nurs Stimme, die wie ein eigenes Instrument funktioniert. Noch deutlicher als auf „No Emotions“ traut sie sich, den vollen Umfang ihrer Stimme zu nutzen. Überhaupt, „Power Nap“, der Titel diese Albums: Er entsteht spontan – als die Band schon längst zusammen im Studio ist. Eines Nachts stolpert Ilgen-Nur über die Worte, während sie Artikel liest über irgendetwas, und ihr ist sofort klar: Das ist der Titel. Und er passt wie angegossen. Power Nap vereint ein Kontraste: Energie und Müdigkeit, Selbstermächtigung und Entschleunigung, den Rückzug in die eigenen vier Wände und den Wunsch, sich ohne jeden Rückhalt in die Welt zu stürzen.

Der vierte Track auf „Power Nap“ heißt „TV“ und kämpft gegen social-media-induzierte Depressionen. „Du kannst sein, was auch immer du willst. Du musst es nur tun. Und aufhören, dich ständig mit Anderen zu vergleichen.“ „Silver Future“ trägt den Namen einer LGBTQ-Kneipe in Berlin-Neukölln im Titel. „Easy Way Out“ erinnert an Sonic Youth (und vor allem an Kim Gorden!), „You’re A Mess“ spielt mit Noiserock und vertrackten Breaks und Pausen.

Mit ihrem Debüt reiht Ilgen-Nur sich ein in eine Riege von Künstlerinnen, die sich gerade aufmacht, die Musik der nächsten Jahre zu prägen. „Power Nap“ ist schon jetzt eines der herausragenden Alben des Jahres 2019.

Foto: Constantin Timm