Slut – “Talks of Paradise“

Slut – “Talks of Paradise“

Nominiert als Bestes Album

Wenn eine Band sich von ihrem langjährigen Klangbild löst und - wieder einmal - häutet, kann sie heute alles Mögliche sein. Großes Orchester oder Laptop-Projekt. Das Skizzenhafte kann neben dem Ausgefeilten stehen. Das Beeindruckende neben dem Unscheinbaren. Das Aufwändige neben dem Simplen. Die Frage ist nur: Will man das überhaupt? Und wenn ja: Zieht man das durch?

Auf ihrem neunten Album „Talks Of Paradise“ präsentieren Slut sich in einem ungewohnten und neuen Soundgewand. Die Gitarrenwände haben sie ersetzt, das Klanggewitter neu gedacht. Stattdessen gibt es analoge elektronische Töne, eine tiefe Transparenz und einige beinahe minimalistische Skizzen („Fala“, „Yes No Why Later“).

Aber das sind nur die oberflächlichsten Veränderungen.

Wenn Musiker mit zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug in ein Studio gehen, entsteht allein aus Gewohnheit ein bestimmter Sound. Aber Slut verweigern sich diesem Schema, was einer Definition ex-negativo gleichkäme: Sie brauchten einfach mal Abwechslung? Nein, so ist es nicht, vielmehr: wer ausgetretene Pfade meidet, wird überrascht.

Bei „Tell your friends“, einer von mehreren Singles des Albums, wird das besonders deutlich. Das Stück beginnt mit einer Art Weckruf: „I hear a call. I hear a knocking on the door“.
Etwas setzt sich in Bewegung, zuerst nur tastend. Der Weg ist noch nicht gefunden, aber eine Richtung wird eingeschlagen. Im Hintergrund flirren die synthetischen Sounds und deuten einen Wald von Möglichkeiten an. Langsam gewinnt das Bild an Schärfe, verfestigt sich zu einer konkreten Vision – so als würde im Moment eine Entscheidung getroffen, als könnte man beim Zuhören am Entstehungsprozess teilhaben.

Auch textlich herrscht eine neue Stimmung vor: Worte, Sätze und Inhalte scheinen um unmittelbare Eingebungen zu kreisen. Keine zu Ende gedachten Geschichten, sondern Stimmungen, die sich aufdrängen und sich oftmals nicht erklären oder benennen lassen:
„Call it what you want.“

Möglichweise stellt sich die Frage: Wo sind die verzerrten Gitarren?

Dass dieses neunte Album von Slut anders klingt als seine Vorgänger, hat viel mit seiner besonderen Entstehungsgeschichte zu tun. Nachdem die Konzertreihe zum Album „Alienation“ im Sommer 2014 beendet war, konnte und wollte die Band nicht nahtlos so weitermachen. Zum ersten Mal in der langen gemeinsamen Geschichte gab es einen echten „Break“, und das ganz ohne Streit oder die üblichen Gründe, die für sowas in Frage kommen. Schlagzeuger Matthias Neuburger verabschiedete sich im Guten, die anderen gingen einfach ihrer Wege und verbrachten mehr Zeit mit ihren Familien. Allen war klar: das ist etwas anderes als die verdiente Pause nach einer langen Tournee. „Es gab erstmals keine Vereinbarung, ob es weitergeht“, sagt Sänger Chris Neuburger. Keiner schrieb Songs, keiner dachte an Aufnahmen oder Konzerte. Bis 2017 Rainer Schaller bei Chris Neuburger anrief: „Wir haben uns lange nicht gesehen.“ Die beiden trafen sich an einem Winterabend in Ingolstadt, gingen aus und sprachen darüber, gemeinsam Musik zu machen. „Das war es, was mir die letzten Monate und Jahre massiv gefehlt hatte“, sagt Chris. Aber wie neu starten? Einfach dort anknüpfen, wo man aufgehört hat?

„Als nächstes kamen per Mail zwei Flugtickets nach Athen“, erinnert sich Chris. Gitarrist bzw. Keyboarder und Sänger verbringen eine Woche in einer leerstehenden Wohnung, durch eine Baulücke vorm Balkon blicken sie auf die Akropolis. Eine Woche lang schreiben sie, machen, abgesehen von kurzen Spaziergängen, nichts als Musik, nehmen Skizzen zu fünf Liedern auf. Und die klingen erfreulich neu. Das mag am abgespeckten Instrumentarium liegen: Eine Gitarre, ein Keyboard, ein Bass, ein Mikrofon, der Laptop – mehr hätte nicht ins Handgepäck gepasst. Es hat aber auch mit den Umständen zu tun: Sie fangen bei Null an, ohne Vorbereitung. Die Texte von Chris entstehen im Moment des Musizierens, also situativ. Genauer: „Was ich in diesem Augenblick gehört habe.“ Ob aus den fünf Skizzen etwas wird, wissen die beiden noch nicht. Sie freuen sich über die „produktive Woche“ und versuchen diese Arbeitsweise beizubehalten. Die Fortsetzung ergibt sich schon bald. Ein befreundeter Videokünstler, der in Rom lebt und übrigens zwei Clips für das neue Album drehen wird, fährt für einen Auftrag nach Ingolstadt. Man tauscht quasi Wohnungen, die Band reist mit leichtem Gepäck nach Rom, diesmal zu viert. Dort entstehen zwei weitere Stücke.

Was dem gesammelten Material noch fehlt, ist ein gemeinsames Klangbild. Sie holen den Produzenten Fabian Isaak Langer ins Boot, dessen Arbeitweise sie mögen. Spielen ihm vor, was sie auf Band und im Kopf haben. „Er war sehr klar“, erinnert sich Rainer Schaller. „Er hörte sich alles an und sagte: das möchte ich machen.“ Unter Fabians umsichtiger Regie nimmt das Album jetzt Fahrt auf. Doch anstatt die Lieder neu und „richtig“ einzuspielen, arbeitet man konsequent weiter mit den vorhandenen Skizzen. Und hält so den ursprünglichen Moment der Entstehung am Leben. Diese Herangehensweise, das Layern und schrittweise Ersetzen von Spuren, bringt auch einen veränderten Klang mit sich: In Athen und Rom hatten sie Instrumente im Rechner simuliert, jetzt wird die Übersetzung nochmals zurückübersetzt. Dabei entsteht naturgemäß nicht wieder die Originalsprache, sondern etwas anderes, man könnte sagen: ein neuer Dialekt. Anstatt automatisch zur Gitarre zu greifen, bisher immer eine verlässliche Methode, fragen sie sich: wo benötigen wir konkret Gitarren, wo etwas anderes? Fabian spendiert einige Synth-Sounds, die Band nimmt alte analoge Klangerzeuger ins Set-Up auf und experimentiert. Wie diese Songs auf der Bühne umzusetzen sind, spielt da noch keine Rolle: „Diese Vorgehensweise war sehr befreiend“, meint Chris Neuburger.

Den hymnischen Indie-Sound ihrer früheren Alben gibt es immer noch. Das hört man unter anderem auf der Vorab-Single „For The Soul There Is No Hospital“. Es geht aber nicht darum, zwanghaft etwas Neues zu versuchen. Oder um den Zweikampf Synthie vs. Gitarre. Vielmehr um das Abschalten von Automatismen. Um eine Suche nach dem Momentum. Auch wenn dabei anfangs ein Mosaik aus vermeintlich widersprüchlichen Eindrücken entsteht.

Fast programmatisch ist der Song „Belly Call“, in dem der Bauch sich zu Wort meldet. Und dessen Anfang den vergeblichen Versuch einer Kategorisierung beschreibt:
Call it what you want
Call it what you like
give it a term that fits into your world
Give it a name and rename it once again
Go on and spread the blame
Number it once, number it twice
Fill the archive with dirty old lies
Number it once, number it twice
It's imagination, all in your mind

Eine Albumproduktion ist stets ein langer Weg, auf dem der Funke eines anfänglichen Gedankens leicht verloren gehen kann: „Wir haben uns gegenseitig immer wieder daran erinnert, nicht einzuknicken“, sagt Chris Neuburger. Und Rainer Schaller ergänzt: „Das Album hat einen Charakter“, weil es konsequent der ersten Idee folgte.

Slut ist etwas bemerkenswertes gelungen: Eine etablierte Band aus Leuten und Freunden, die sich schon sehr lange kennen, hat sich entschieden etwas wirklich Neues zu wagen. Und das auf der gesamten Strecke. Tell your friends!

Foto: Foris